Viele tausend Menschen fliehen jedes Jahr vor Krieg, Terror und Not übers Mittelmeer. Sie wissen, dass die Überfahrt lebensgefährlich ist und sehen darin doch die einzige Chance auf ein Überleben. Unzählige sind bereits ertrunken. Eine staatliche Seenotrettung gibt es nicht mehr. Daher bewahren zivile Seenotrettungsorganisationen die fliehenden Menschen vor dem Tod im Meer. Denn jedes Menschenleben zählt und ist wert gerettet zu werden. Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.
Die Regierungen der Europäischen Union setzen an ihren Außengrenzen auf Abschottung und Abschreckung – insbesondere auf dem Mittelmeer. Zehntausende Menschen sind in den vergangenen Jahren im Mittelmeer ertrunken. Es ist die tödlichste Grenze der Welt. Mit allen Mitteln werden schutzsuchende Menschen daran gehindert, Europa erreichen. Die staatliche Seenotrettung wurde eingestellt. Mehr noch: Die europäischen Staaten ignorieren Seenotfälle, verweigern Hilfe, brechen geltendes Recht und behindern sogar systematisch die zivilen Rettungsorganisationen. Rettungsschiffe werden festgehalten und die Besatzungen diffamiert und kriminalisiert. Doch jedes Menschenleben zählt und ist wert gerettet zu werden. Wo schutzlose Menschen in Lebensgefahr geraten, rechtlos gemacht werden und Hilfe brauchen, sind Kirchen gefordert, zu helfen. Diese Kollekte unterstützt United4Rescue, das von der evangelischen Kirche gegründete Bündnis zur Unterstützung der zivilen Seenotrettung. United4Rescue hilft Leben zu retten – solange die Politik versagt.
Bundesaußenminister Wadephul hat angekündigt, kein Geld mehr für die die zivile Seenotrettung im Mittelmeer auszugeben. Diesen Weg nach Europa haben 2024 rund 145.000 Menschen gewählt. Mehr als 30.000 sind seit dem Jahr 2014 ertrunken. Ilham Khaskiyeh und ihr Sohn Mohammed erzählen, wie sie überlebten – und nach Deutschland kamen. Ein Beitrag von Florian Riesterer
Wenn Ilham Khaskiyeh von der Flucht spricht, füllen sich ihre Augen immer wieder mit Tränen. Mehr als eine Woche lang ist die heute 48-Jährige mit ihren drei Kinder Mohammed, Riham und Jihan auf dem offenen Meer – ohne zu wissen, wann sie ankommen. Die alleinerziehende Mutter flüchtet vor Gewalt in ihrem Heimatland.
„Das Schiff war ausgelegt für 95 Menschen. 195 Personen waren letztlich an Bord“, versucht Ilham Khaskiyeh die beengten Verhältnisse klar zu machen. Jeder hat lediglich eine kleine Tasche Kleidung dabei und die Papiere. In einem kleinen Raum, halb so groß wie ihr jetziges Wohnzimmer, drängen sich 55 Frauen und Kinder. „Es war eine Katastrophe“, sagt Sohn Mohammed.
Der 15-Jährige ist auf dem Schiff getrennt von seinen restlichen Familie, muss als Mann draußen bleiben. Der Seegang ist enorm hoch, alle sind durchnässt. Eine Toilette gibt es nur unter Deck im Frauenbereich. „Es war so kalt, dass ich meine Hände und Füße nicht mehr gefühlt habe.“
Dann hat das Schiff einen Motorschaden, fährt deutlich langsamer als geplant. Viel schlimmer noch: Das Essen und Trinken ist neben dem Motor gelagert und jetzt mit Benzin verseucht. „Die letzten drei Tage haben wir nichts gegessen und getrunken“, sagt Mohammed.
Das Gefühl, als die italienische Wasserschutzpolizei am neunten Tag der Flucht das Boot aufgreift und in einen Hafen eskortiert, kann Ilham Khaskiyeh kaum in Worte fassen. „Ich hatte das Gefühl, als sei ich gestorben und habe noch einmal ein neues Leben bekommen.“
Doch auch Italien entpuppt sich nicht als der erhoffte sichere Ort. Italienische Behördenmitarbeiter sperren die Ankommenden erst einmal ein, nehmen Fingerabdrücke. „Es war wie im Gefängnis.“ Später sollen sie zusammen mit anderen Familien in Busse einsteigen, die zwei Camps für Flüchtlinge anfahren. Beide weisen sie ab. Schließlich sollen sie zu Fuß weitergehen. Nach rund 20 Stunden Fahrt und einem Fußmarsch erreichen sie mit einem halben Dutzend anderer Familien ein Gebirgsdorf. „Wir kamen in ein Haus, es gab keinen Schlüssel. In der Nacht habe ich mit meinen Kindern in einem Bett geschlafen. Ich hatte Angst“, sagt Ilhan Khaskiyeh.
Mehrere Tage lang hat ihre jüngste Tochter Jihan Fieber, alle sind krank wegen der durchnässten Kleidung. Am vierten Tag erst kommt eine Hilfsorganisation mit Essen. Doch Medikamente für Jihan gibt es nicht. „Sie sagten, wir können nichts machen“, erinnert sich Mohammed. Bettwäsche oder Ersatzkleidung gibt es nicht. In den Bergen ist es kalt. Doch eine Heizung ist nicht da. „Niemand hat uns geholfen, ich hatte das Gefühl, sie schmeißen uns weg“, sagt Ilhan Khaskiyeh.
Rund zehn Tage harren sie dort aus, die letzten beiden Tage wird das Essen und Trinken wieder knapp. Erinnerungen an die Überfahrt auf dem Meer kommen auf. Schließlich beschließt Ilhan Khaskiyeh auf eigene Faust, sich in die Zivilisation durchzuschlagen. Mithilfe von Google Maps und ihren Englischkenntnissen schafft sie es, Zugtickets nach Mailand zu bekommen. Von dort reisen sie mit Bussen weiter nach Deutschland. Die italienischen Behörden halten sie nicht auf, sind offenbar froh über die Weiterreise.
Jetzt, im pfälzischen Grünstadt, hat Ilhan Khaskiyeh das Gefühl, am Ende Ihrer Irrfahrt angekommen zu sein. „Ich fühle mich hier endlich sicher, habe keine Angst mehr um die Kinder“, sagt Ilhan Khaskiyeh. Erstmals blickt sie in die Zukunft. „Ich will Deutsch lernen, einen Job finden“, sagt sie auf Englisch. In ihrer Heimat Libanon hat sie unter anderem für die Vereinten Nationen gearbeitet. Alle drei Kinder sind in der Schule gut integriert. „Ich beginne im August eine Ausbildung als Elektriker“, sagt Mohammed, der als Verteidiger beim örtlichen Fußballverein kickt. Riham will zur Polizei, Jihan – wie ihre Schwester auch auf dem Gymnasium – macht demnächst ein Praktikum als Tierärztin.
„Eine Zukunft sehe ich in meinem Heimatland nicht. Deutschland ist perfekt, hier habe ich Chancen“, sagt Mohammed. Doch diese Zukunft ist brüchig. Vor zwei Jahren bereits sollte die Familie nach Italien abgeschoben werden – das Land, das nach der Dublin-Verordnung für den Asylantrag zuständig ist. Für die damals bereits gut integrierte Familie war das nach ihren traumatischen Erfahrungen dort ein Schock.
Die katholische und evangelische Gemeinde organisierten daraufhin ein Kirchenasyl in der evangelischen Kirchengemeinde Maxdorf. Die „Leininger Initiative Gegen Ausländerfeindlichkeit“(LIGA) unterstützte. Zwei Monate und drei Tage harrte die Familie dort aus. Ilhan Khaskiye nennt diese Zeit „special days for me“ und ihre Augen leuchten. „Jeden Tag kam jemand, sogar Klavierspielen konnte meine Schwester“, erzählt Mohammed. Klassenkameraden organisierten eine große Solidaritätsaktion für die Geschwister.
Jetzt läuft ihr Asylantrag in Deutschland. Wie es ausgeht, wissen sie nicht. Das bedeutet Warten und Hoffen. „Ich schlafe jede Nacht mit der Angst ein, dass ich morgen nicht mehr in Deutschland bin“, sagt Mohammed. „Hoffentlich passiert das nicht.“